Das Wichtigste in Kürze
- Die geplante Gesetzesänderung zur Cannabis-Legalisierung sorgt für Diskussionen.
- Nach Ansicht von Nikolaus Lange, Therapeutischer Leiter der AGJ Rehaklinik Freiolsheim, fehlt es an Regelungen für den Umgang mit Cannabis-Konsum, an gesundheitspolitischen Konzepten und Finanzierungsplänen für die generelle Suchtprävention.
- Lange gibt Empfehlungen für Vorgesetzte, Kolleginnen, Kollegen, Ausbilderinnen und Ausbildern, wie sie das Thema Suchtprävention im Betrieb ansprechen können.
- Der Klinikleiter erläutert zudem, welche positiven Effekte er durch eine Gesetzesänderung erwartet.
- Lesen sie auch, wie BGHW, DGUV und DVR zur geplanten Cannabis-Legalisierung stehen.
Viele Menschen sind durch die geplante Gesetzesänderung zur Cannabis-Legalisierung verunsichert. Im Interview mit HUNDERT PROZENT schildert Nikolaus Lange, Therapeutischer Leiter der AGJ Rehaklinik Freiolsheim für drogen- und mehrfachabhängige Frauen und Männer, warum aus seiner Sicht vor der Legalisierung grundlegende Fragen geklärt werden müssen und welche positiven Effekte er durch eine Gesetzesänderung erwartet.
Die geplante Gesetzesänderung zur Cannabis-Legalisierung wurde auf das Frühjahr 2024 verschoben. Welche Hausaufgaben sind in Ihren Augen noch zu erfüllen?
Meiner Meinung nach ist die Cannabis-Legalisierung mit Blick auf die ungeklärten Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit und Teilnahme am Straßenverkehr noch nicht ausreichend geklärt. Die augenblicklichen politischen und gesellschaftlichen Diskussionen konzentrieren sich viel zu sehr auf die Rahmenbedingungen des Handels, auf Verkaufswege, Besitzmengen und die Frage, wo und wie Cannabis angeboten und verkauft werden kann. Es fehlt dagegen an Regelungen für den Umgang mit Cannabis-Konsum, an gesundheitspolitischen Konzepten und Finanzierungsplänen für die generelle Suchtprävention, die zwingend erforderlich ist. Der zweite Schritt wird vor dem ersten gemacht.
An wen sollte sich die generelle Suchtprävention richten?
Suchtprävention muss bereits bei Jungen und Mädchen im Kita-Alter beginnen und bei Schülerinnen, Schülern, Auszubildenden, Eltern und Erwachsenen fortgesetzt werden. Kinder sollten schon früh ein gesundes Selbstbewusstsein vermittelt bekommen, und das fängt in der Kita an. Starke Kinder brauchen keine Suchtmittel. Sie kommen auch mit Unsicherheiten gut zurecht. Alle, die an der Erziehung junger Menschen beteiligt sind, sollten sensibilisiert und geschult werden.
Woran können sich Führungskräfte und Unternehmen schon vor der Gesetzesänderung orientieren?
Das, was im Kontext von Arbeitssicherheit und Straßenverkehrsteilnahme bei Drogen- und Alkoholkonsum gilt, ist auch beim Thema Cannabis zu berücksichtigen.
Wie sollte man das Thema im Betrieb ansprechen? Was raten Sie Vorgesetzten, Kolleginnen, Kollegen, Ausbilderinnen oder Ausbildern?
Ich kann nur empfehlen, für das Thema Drogen und Alkohol regelmäßig zu sensibilisieren und offen zu kommunizieren. Nehmen Sie das Thema Alkohol und Drogen in Ihr betriebliches Präventionsprogramm auf. Haben Sie als Vorgesetzte das Thema Drogenabhängigkeit im Hinterkopf. Sprechen Sie die betroffene Person bei auffälligen Verhaltensveränderungen an. Wenn es klare Regelungen gibt, fühlen sich Führungskräfte nicht allein gelassen: Eine klare Betriebsvereinbarung zur Haltung gegenüber Alkohol- und Drogen am Arbeitsplatz sowie die Implementierung eines betrieblichen Suchthelfers erleichtern für alle Beteiligten den Umgang mit der Thematik und helfen im Einzelfall konstruktive Lösung zu finden.
Gibt es Warnsignale, an denen man eine mögliche Suchterkrankung erkennen kann?
Vorab: Verhaltensänderungen können nicht nur in Verbindung mit einer Cannabissucht, sondern auch bei Alkohol- und allen anderen Abhängigkeiten entstehen. Wenn sich Menschen auffällig verändern, kann das ein deutliches Zeichen sein. Zu Veränderungen könnte gehören, dass die- oder derjenige verlangsamt reagiert, Aufgaben nicht erledigt, immer unzuverlässiger wird, häufig fehlt, sich zunehmend isoliert. Es muss nicht immer mit Drogen zu tun haben. Auch Familienkonflikte, Schulden bis hin zu psychischen oder somatischen Erkrankungen können zu Verhaltensänderungen führen.
Der Abbau der rauscherzielenden Substanz in Cannabis, Tetrahydrocannabinol (THC) und die Nachweisbarkeit im Blut sollen zeitlich schwer einzugrenzen sein. Ist es richtig, dass es keine vergleichbaren Orientierungswerte gibt, so wie beim Alkohol?
Der Cannabis-Wirkstoff bleibt wesentlich länger im Körper als Alkohol und ist je nach Konsummenge und -häufigkeit Tage oder Wochen später noch nachweisbar. Aber inwieweit die Wirkung auf Menschen und damit auf mögliche Funktionseinschränkungen anhält, das ist nicht eindeutig feststellbar. Das ist das Problem.
Würden Sie das an einem Beispiel erklären?
Angenommen, ein erwachsener Mensch trinkt abends Bier oder Wein und hat gegen 22 Uhr 0,8 Promille Alkohol im Blut. Geht man davon aus, dass ein gesunder Körper 0,15 bis 0,2 Promille in der Stunde abbaut, ist der Alkohol morgens zwischen 2 und 3 Uhr nicht mehr in Blut oder Urin nachweisbar. Nur spezielle Tests könnten regelmäßigen Alkoholkonsum nachträglich feststellen. Anders ist es beim Cannabis- Wirkstoff: Der ist noch Tage später nachweisbar. Bei einmaligem Konsum kann THC direkt sechs bis 24 Stunden im Blut und zwei bis drei Tage später noch im Urin festgestellt werden. Das bedeutet: Wer freitags oder samstags einen Joint raucht, könnte am Montag noch nachweislich THC im Urin haben. Er könnte dennoch voll arbeitsfähig sein, da es ungewiss ist, wie stark sich der gemessene THC-Gehalt auf die Arbeitsfähigkeit des Einzelnen auswirkt. Hier bestehen noch offene Fragen zum Arbeitsschutz und zum Arbeitsrecht, die geklärt werden sollten, bevor Cannabis legalisiert werden soll.
Wie kann sich längerfristiger Cannabis-Konsum auf den Alltag eines Menschen auswirken? Wie äußert sich die Drogenabhängigkeit?
Cannabis kann ebenso wie Alkohol, Kokain oder andere Drogen und Medikamente körperlich und psychisch bei regelmäßigem Konsum abhängig machen. Da ist der starke Wunsch, die Droge einzunehmen. Es wird zunehmend schwieriger, den Konsum zu kontrollieren. Die Einnahmehäufigkeit und Menge steigen an. Hinzu kommt, dass der oder die Betroffene sich gut fühlt und den Kontrollverlust nicht bemerkt. Der Teufelskreis zwischen Beschaffung, Konsum, Wirkung, dem Ausruhen von der Wirkung und der erneuten Beschaffung dominiert immer stärker das Leben. Selbstfürsorge, soziale Kontakte, beruflicher Lebensbereich und verantwortliches Handeln sowie die materielle Existenz wie Arbeit und Wohnung rücken zugunsten der Drogeneinnahme immer stärker in den Hintergrund. Bei massivem Cannabis Konsum können im Gehirn kognitive Dauerschäden entstehen. Bei einer vorliegenden Abhängigkeitserkrankung scheint es für die Betroffenen so, dass sie ohne Zuhilfenahme der Drogen den Alltag nicht mehr bewältigen können.
Und die Konsequenz?
Menschen vereinsamen, verlieren soziale Kontakte, gefährden ihren Arbeitsplatz. Ohne Behandlung drohen Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen, körperlich, psychisch und sozial schwer zu erkranken. Damit verbunden ist häufig der soziale Abstieg. In Deutschland sind jährlich 2000 Drogentote, 40.000 Alkoholtote und 130.000 Nikotintote zu beklagen.
Welche positiven Aspekte sehen Sie in der Legalisierung?
Auch Alkohol und Nikotin können abhängig machen. Anders als bei Zigaretten und Alkohol ist der Besitz von Cannabis strafbar. Eine Legalisierung könnte Cannabis-Konsumenten entkriminalisieren. Gerade für junge Menschen ist die Entkriminalisierung ein wichtiger Aspekt, um zu vermeiden, dass sie durch das soziale Raster fallen oder Kontakt zu kriminellen Kreisen aufnehmen.
Ihr Fazit: Was halten Sie von der geplanten Legalisierung?
Die Cannabis-Legalisierung ist eine Gratwanderung. Sie braucht klare Regelungen für den verantwortungsvollen Umgang, damit aus Konsum keine Abhängigkeit entsteht. Dazu zählt auch, dass eindeutig geklärt ist, unter welchen Umständen die Fahrtüchtigkeit und auch die Arbeitsfähigkeit nach zurückliegendem Cannabis-Konsum gegeben ist. Zudem sind eine gezielte Erweiterung der Suchtprävention und deren konkrete Finanzierung unerlässlich.
Zur Person
Nikolaus Lange ist seit 1. Januar 2023 therapeutischer Leiter der Rehaklinik Freiolsheim, eine Einrichtung des AGJ-Fachverbands für Prävention und Rehabilitation der Erzdiözese Freiburg.
Der gebürtige Euskirchener ist psychologischer Psychotherapeut, arbeitete nach seinem Studium in Gießen und Köln, von 1994 bis 2018 zunächst als Einzel- und Gruppentherapeut und dann als leitender Psychologe in der Fachklinik Eußerthal.
Vier Jahre war der Familienvater stellvertretender Geschäftsführer des Baden-Württembergischen Landesverbands für Prävention und Rehabilitation, bevor er die Klinikleitung in Freiolsheim übernahm.
Seit 2017 ist Lange Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Suchtpsychologie (dgsps e.V.) und in anderen bundesweiten Gremien aktiv.
Über die AGJ Rehaklinik Freiolsheim und den AGJ Klinikverbund
Die AGJ Rehaklinik für illegale Drogen bei Gaggenau bietet 60 Rehabilitationsplätze für mehrfach abhängige Frauen und Männer, auch für suchtkranke Eltern und ihre Kinder.
Rund 50 Beschäftigte arbeiten dort in einem multiprofessionellen Team zusammen. Zum AGJ Klinikverbund gehören zwei weitere Rehakliniken für Abhängigkeitserkrankungen, ein Integrationszentrum und eine Tagesklinik. Der Träger der Rehaklinik Freiolsheim ist der AGJ Fachverband für Prävention und Rehabilitation in der Erzdiözese Freiburg.
Der AGJ Fachverband bietet für Menschen mit Suchtproblemen vielfältige Behandlungsangebote aus einer Hand an. Die Behandlungsangebote reichen dabei von der Prävention in Schulen und Betrieben über Suchtberatungen bis hin zur (ganztägig-) ambulanten und stationären Rehabilitation.