Das Wichtigste im Überblick
- Im Einzelhandel häufen sich Konflikte mit Kundinnen und Kunden.
- Gerade verbale Gewalt in Form von Beleidigungen und Beschimpfungen nimmt zu. Unternehmen haben die Pflicht, ihre Mitarbeitenden zu schützen.
- Das neue BGHW-Seminar „Konfliktbereite Kunden“ klärt über das richtige Verhalten in konfliktgeladenen Situationen auf.
- Außerdem hat HUNDERT PROZENT nachgefragt, wie das Thema „psychische Gewalt am Arbeitsplatz“ in der Selbstverwaltung der BGHW wahrgenommen wird.
Wer im Einzelhandel arbeitet, muss oft ein dickes Fell haben. Denn König Kunde kann manchmal richtig ausfallend werden. Unternehmen müssen ihre Mitarbeitenden vor jeder Form von Gewalt, auch vor psychischer Gewalt, schützen. Die BGHW will für den Umgang mit schwierigen Kundinnen und Kunden sensibilisieren und bietet das neue Seminar „Konfliktbereite Kunden“ an.
Die Kaufland-Filiale in der Johannisthaler Chaussee in Berlin Neukölln hat bundesweit mit die höchsten Kundenzahlen aller Kaufland-Filialen: Rund 7.000 Kundinnen und Kunden besuchen das Geschäft täglich. Die meisten sind freundlich, aber der raue Tonfall nimmt spürbar zu. Das soziale Umfeld tut sein Übriges dazu. „Gerade verbale Gewalt – von Rumpöbeln über Anbrüllen bis zur Gewaltandrohung – erleben meine Kolleginnen und Kollegen regelmäßig“, sagt Kristina Kroß, Betriebsrätin der Filiale. Und das ziehe sich durch den gesamten Markt. Von der Informationstheke im Eingangsbereich, die sowohl Anlaufstelle für Fragen als auch Reklamationen ist, über alle Bereiche der Warenverräumung bis hin zu den Bedientheken und den Kassen.
Von der harmlosen Situation zum Konflikt
Ein paar Beispiele? Ein Kollege aus der Getränkeabteilung beobachtet ein Mädchen, das eine Flasche aus dem Regal nimmt, daraus trinkt und sie wieder zurückstellt. Er spricht sie darauf an und macht ihr klar, dass dies Diebstahl sei. Der Vater des Mädchens stimmt ihm zunächst zu. Als das Mädchen anfängt zu weinen, wendet sich das Gespräch, der Vater wird laut und erwartet vom Mitarbeiter eine Entschuldigung bei seiner Tochter. Szenenwechsel: Eine Kassiererin sieht bei einem Kunden im Wagen eine Sprühflasche mit ausländischer Aufschrift, die sie nicht zuordnen kann, und fragt, ob das sein Eigentum sei. Daraufhin zückt dieser die Flasche und sprüht ihr kommentarlos ins Gesicht. Diese Beispiele zeigen, welch aggressives Verhalten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Einzelhandel aushalten müssen. König Kunde glaubt scheinbar, sich alles erlauben zu können.
Verbale Gewalt im Einzelhandel
Das kennt auch Martin Wuttke von der BGHW, seit vielen Jahren Aufsichtsperson für den Bereich Prävention in der Region Berlin: „Die verbale Gewalt, die auch ins Handgreifliche kippen kann, belastet unsere Mitgliedsbetriebe, vor allem unsere Versicherten, die täglich Kundenkontakt haben. Sie hängt auch mit dem gesellschaftlichen Wandel, mit der Digitalisierung und Individualisierung zusammen. Die Kunden erleben beim Onlinehändler, dass ihre Reklamationen in Nullkommanichts erledigt werden, ohne großes Nachfragen. Das erwarten sie dann auch vom Präsenzhandel.“ Gerade Reklamationen erfordern dort richtige Emotionsarbeit, so Wuttke. „Wenn Kunden etwas reklamieren, haben sie ein Problem und sind grundsätzlich schon ganz anders drauf. Damit müssen Beschäftigte umgehen können.“
Beleidigungen nicht hinnehmen
Hier ist das Unternehmen gefordert. Es muss, passend für den Betrieb, die richtigen Schutzmaßnahmen treffen – sowohl organisatorisch als auch technisch – und die Mitarbeitenden schulen lassen. Die BGHW berät ihre Mitgliedsbetriebe zu diesen Fragestellungen. Mit dem neuen Seminar „Konfliktbereite Kunden“ sensibilisiert die BGHW Unternehmer, Führungskräfte, Betriebsräte sowie Fachkräfte für Arbeitssicherheit für die zunehmende psychische Beanspruchung durch Konflikte.
Mitarbeitende vor Gewalt schützen
„Die Führungskräfte sind dafür verantwortlich, die Gefahren für ihre Beschäftigten zu minimieren – sowohl die physischen als auch die psychischen“, so Wuttke. Die Schwierigkeit: Psychische Belastung lässt sich nicht messen oder so einfach erfassen wie Stolperfallen im Betrieb. Was den einen Mitarbeitenden beansprucht, empfindet der andere gar nicht so. Es sei wichtig, sagt Wuttke, dass Führungskräfte mit den Mitarbeitenden sprechen und sich in sie hineinversetzen, um daraus entsprechende Schutzmaßnahmen abzuleiten. Genau das trainieren sie im neuen Seminar.
Drei Fragen an Martin Wuttke zum neuen BGHW-Seminar „Konfliktbereite Kunden“
- Warum trifft das Seminar den Nerv der Zeit? Aus der Einzelhandelsbranche hören wir immer häufiger, dass Kundinnen und Kunden ein Verhalten zeigen, das zu Konflikten führt. Die Mitarbeitenden auf der Fläche werden zum Ziel verbaler und körperlicher Übergriffe.
- Was vermittelt das Seminar? Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer lernen unter anderem verschiedene Stufen der Gewalt kennen und erfahren, wie sich Bedrohungen und Übergriffe am Arbeitsplatz vermeiden lassen, zum Beispiel durch technische oder organisatorische Maßnahmen.
- An wen richtet sich das Seminar? An Unternehmen, Führungskräfte, Betriebsräte, Fachkräfte für Arbeitssicherheit. Sie müssen die Dringlichkeit des Themas erkennen, dafür in ihrem Betrieb sensibilisieren und Maßnahmen ergreifen oder anschieben.
An einem Strang ziehen
Wie wird das Thema „psychische Gewalt am Arbeitsplatz“ in der Selbstverwaltung der BGHW wahrgenommen? HUNDERT PROZENT hat Meinungen eingeholt.
Mehr Respekt für Arbeit im Handel
„Die Kolleginnen aus den Betrieben spiegeln uns, dass Aggressionen, Beleidigungen und sexuelle Belästigungen immer häufiger werden. Gegen mittelbare und unmittelbare Gewalt wollen wir dringend etwas tun. Wir möchten, dass die Arbeit im Handel mehr Anerkennung und Respekt erfährt und damit gleichzeitig eine gute und gesunde Arbeit fördern. Es ist wichtig, gemeinsam mit den Betriebsräten und unter Beteiligung der Beschäftigten Maßnahmen gegen Gewalt im Handel zu entwickeln und Unternehmen müssen einen klaren Rahmen stecken, auf den sich Beschäftigte berufen können. Damit wir präventiv etwas gegen psychische und physische Gewalt bewirken können, brauchen wir eine bundesweite Debatte mit allen Akteurinnen und Akteuren. Dazu gehören die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber genauso wie die Berufsgenossenschaften. Es muss akzeptiert werden, dass es diese Form der Gewalt vermehrt gibt.“
Für verbale Gewalt sensibilisieren
„Durch die Coronapandemie ist der Tonfall rauer geworden. Ich kann mich dagegen wehren, aber viele meiner Kolleginnen und Kollegen erdulden jede Anfeindung. Einerseits trauen sie sich nicht, darüber zu sprechen. Nach dem Motto, es ändert sich ja sowieso nichts, ich bekomme Ärger von der Geschäftsleitung, der Kunde hat immer recht. Andererseits erkennen sie gar nicht, wie manche Kundinnen und Kunden mit ihnen umgehen. Die Kolleginnen und Kollegen müssen dringend geschult werden. Wo beginnt Gewalt, wie erkenne ich sie und an wen kann ich mich wenden? Wir müssen aufklären.“
Gewalt ist nicht akzeptabel
„In der Rewe Group führen wir bereits viele Schulungen im Umgang mit Kunden – auch mit herausfordernden – durch, sowohl für die Mitarbeitenden als auch für die Führungskräfte. Wie deeskaliere ich, wie stärke ich meine Stressresilienz, wie gehe ich mit Emotionen um und wie schütze ich Betroffene – bis hin zur Nachsorge. Wir legen großen Wert darauf, unsere Mitarbeitenden darin zu unterstützen. Gewalt ist nicht akzeptabel, weder physische noch psychische. In unserem Leitbild ist ein tolerantes und respektvolles Miteinander verankert. Aber wir müssen noch weiter informieren und dafür werben.“